§ 2079 Anfechtung wegen Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten
Eine letztwillige Verfügung kann angefochten werden, wenn der Erblasser einen zur Zeit des Erbfalls vorhandenen Pflichtteilsberechtigten übergangen hat, dessen Vorhandensein ihm bei der Errichtung der Verfügung nicht bekannt war oder der erst nach der Errichtung geboren oder pflichtteilsberechtigt geworden ist. Die Anfechtung ist ausgeschlossen, soweit anzunehmen ist, dass der Erblasser auch bei Kenntnis der Sachlage die Verfügung getroffen haben würde.
Für den Rechtsverkehr
(für Nichtjuristen)
zum Expertenteil (für Juristen)
Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle
1. 1Allgemeines
a) Normzweck
Nach überwiegender Auffassung kann die Anfechtung nach
In der Praxis taucht die Anfechtung nach
b) Anwendungsbereich
Die Anfechtung wegen Übergehens eine Pflichtteilsberechtigten ist grundsätzlich auf Testamente anwendbar. Gemäß
Eine Besonderheit der Anfechtung wegen Übergehens eines Pflichtteilsberechtigten ist, dass bereits die Unkenntnis des Erblassers von der Existenz eines Pflichtteilsberechtigten, ohne, dass die Kausalität zwischen der Unkenntnis und der letztwilligen Verfügung nachgewiesen werden muss, zur Anfechtung berechtigt. Die Kausalität wird daher grundsätzlich unterstellt.
Sofern der Erblasser die letztwillige Verfügung aber in Kenntnis der Sachlage, daher der Existenz eines Pflichtteilsberechtigten oder späteren Hinzutretens eines Pflichtteilsberechtigten, trotzdem getroffen hätte, ist die Anfechtung ausgeschlossen. Entscheidend für die Ausnahme der Anfechtbarkeit ist der hypothetischer Erblasserwille zum Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung.BayObLG NJW-RR 2005, 91 (93) Verbleiben bei dieser Prüfung nach ausreichender Ermittlung des hypothetischen Erblasserwillens noch verbleibende Zweifel, bleibt es bei der gesetzlichen Vermutung und daher der Anfechtbarkeit der letztwilligen Verfügung.BGH LM BGB
c) Vorrang der Auslegung
Bevor man allerdings die Anfechtbarkeit und ihr zugrunde liegende Vermutung annehmen darf, ist anhand der Auslegung der Erblasserwille zu ermittlen. Die Verfügung ist daher erst auszulegen, bevor man von einer Anfechtbarkeit ausgehen darf. Der Grundsatz des Vorrangs der Auslegung, auch der ergänzenden Auslegung, ist vor der Anfechtung zu beachten.Burandt/Rojahn/Czubayko, 4. Aufl. 2022, BGB
Die Anfechtung ist somit immer ausgeschlossen, wenn der Erblasser den Pflichtteilsberechtigten ausdrücklich nicht bedacht bzw. enterbt und daher bewusst übergangen hatSo auch Burandt/Rojahn/Czubayko, 4. Aufl. 2022, BGB
Sofern daher etwa Formulierungen im Testament enthalten sind, wie etwa – "…unabhängig davon, wie viele Kinder wir haben werden…." – oder ähnliches, stellt dies ein starkes Indiz für den Willen des Erblassers dar, eine abschließende Regelung treffen zu wollen.
2. Definitionen
a) Pflichtteilsberechtige
Hinsichtlich der Pflichtteilsberechtigung bzw. des diesbezüglichen Zeitpunkts unterscheidet
Die letztwillige Verfügung kann daher angefochten werden, wenn der Erblasser einen zur Zeit des Erbfalls
- einen vorhandenen Pflichtteilsberechtigten übergangen hat, dessen Vorhandensein ihm bei der Errichtung der Verfügung nicht bekannt war oder
- der erst nach der Errichtung geboren oder
- pflichtteilsberechtigt geworden ist.
Pflichtteilsberechtigte sind nach
Sind keine Abkömmlinge der Erblassers vorhanden, sind die seine Eltern pflichtteilsberechtigt. Die Eltern und entferntere Abkömmlinge werden allerdings von näheren Abkömmlingen ausgeschlossen.
b) Übergehen eines Pflichtteilsberechtigten
Grundsätzlich liegt das Übergehen eines Pflichtteilsberechtigten im Sinne des
c) Kein Ausschluss der Anfechtung gemäß § 2285 BGB analog
Die Anfechtung darf nicht nach
Nach herrschender Auffassung findet diese Vorschrift, obwohl unmittelbar nur für Erbvertrag normiert, analog auch auf wechselbezügliche Verfügungen eines gemeinschaftlichen Testaments Anwendung.BayObLG NJW-RR 1989, 1090; Grüneberg/Weidlich BGB
Der Erblasser kann einen Erbvertrag oder eine wechselbezügliche Verfügung eines gemeinschaftlichen Testaments nach §§ 2281, 2285, 2079 BGB anfechten, sobald er erfährt, dass er bei Abfassung seiner letztwilligen Verfügung ein Pflichtteilsberechtigter übergangen hat. Der typische und häufigste Fall ist die Wiederheirat. Die Anfechtung des Erblassers muss innerhalb der Jahresfrist gemäß des
d) Beweislast
aa) § 2079 S. 1 BGB
Die Beweislast für das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes unterliegt den allgemeinen Beweislastregeln, sodass diese denjenigen trifft, der sich auf die Wirksamkeit der Anfechtung beruft.BayBbLG FamRZ 1997, 772 (773); 1985, 534 (535); OLG München NJW-RR 2008, 1112 Der Anfechtende muss daher die Pflichtteilsberechtigung und die Nichtberücksichtigung in der letztwilligen Verfügung beweisen.
bb) § 2079 S. 2 BGB
Den entgegenstehenden hypothetischen Erblasserwillen im Sinne des
e) Rechtsfolge
Die Rechtsfolge einer durchgreifenden Anfechtung ist grundsätzlich die rückwirkende Gesamtnichtigkeit gemäß
Im Gegensatz zur Anfechtung nach
Sofern die Gesamtnichtigkeit eintritt, wirkt diese absolut und daher nicht nur gegenüber dem Anfechtenden, sondern gegen über Jedermann.BGH NJW 1985, 2025 (2026)
Expertenhinweise
(für Juristen)
1) Allgemeines
2a) Normzweck
2) Definitionen
a) 4Pflichtteilsberechtige
Nach
3) Abgrenzungen, Kasuistik
12Probleme bereitet in der Praxis häufig die Prüfung, ob das vermeintlich objektiv vorliegende Übergehen des Pflichtteilsberechtigten bewusst oder unbewusst seitens des Erblassers bzw. Testierenden erfolgte. Sofern er den Pflichtteilsberechtigten bewusst nicht bedacht hat, liegt kein Übergehen des Pflichtteilsberechtigten im Sinne von
Grundsätzlich liegt das Übergehen eines Pflichtteilsberechtigten im Sinne des
a) Ungewolltes Ausschließen bzw. Nichterwähnung
Der Pflichtteilsberechtigte darf weder ausdrücklich enterbt, noch als Erbe eingesetzt oder mit einem Vermächtnis bedacht worden sein.OLG Düsseldorf FamRZ 1999, 122; OLG Karlsruhe ZEV 1995, 454; BayObLG ZEV 1994, 106 (107); OLG Celle NJW 1969, 101 Der Erblasser muss daher den Pflichtteilsberechtigten daher unbewusst nicht bedacht haben. Die Enterbung darf kein Resultat bewusster Willensbildung sein.BGH NJW 1983, 2247 (2249) Die Nichterwähnung - etwa bereits im Rahmen der Vorbemerkungen eines notariellen Testaments - des Pflichtteilsberechtigten ist ein klares Indiz für das ungewollte Ausschließen des Pflichtteilsberechtigten.
b) Bewusstes Ausschließen
Ein bewusster Ausschluss der Erbfolge liegt nicht bereits dann vor, wenn der später Pflichtteilsberechtigter allein deshalb nach dem Testament nichts erhält, weil andere darin bedacht sind. Die Absicht des Erblassers muss vielmehr andeutungsweise dahingehend zum Ausdruck gekommen sein, dem Pflichtteilsberechtigen nichts zuwenden zu wollen.BGH NJW 1983, 2247 (2248); RGZ 59, 60 (62)
Sofern sich Ehegatten in einem gemeinschaftlichen Testament „ohne Rücksicht auf gegenwärtige oder künftige Pflichtteilsberechtigte“ gegenseitig zu Alleinerben eingesetzt haben, liegt kein Übergehen eines zukünftigen Pflichtteilsberechtigen vor.BGH NJW 1983, 2247 (2248); BayObLG NJW-RR 1997, 1027 (1030) Die Eheleute haben mit diesem ausdrücklichen Zusatz im Rahmen ihrer gegenseitigen Erbeinsetzung zum Ausdruck gebracht, dass der/die Erblasser die Verfügung auch bei späteren Hinzutreten eines Pflichtteilsberechtigten die Verfügung getroffen hätten. Daher haben sie nach der hier vertreten Auffassung die Anfechtung nach
c) Übergehen eines Bedachten, später pflichtteilsberechtigt Gewordenen, § 2079 S. 1 Alt. 3 BGB
Streitig ist die Qualifizierung des Sachverhaltes, in dem ein Übergehen einer zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung bereits existierenden, aber erst später pflichtteilsberechtigt gewordenen Person vorliegt, diese aber bereits in der letztwilligen Verfügung von dem Erblasser bedacht worden war. Typischerweise erfolgt diese Konstellation dadurch, dass eine im Testament bedachte Person durch spätere Heirat oder Adoption pflichtteilsberechtigt wird.
Leipold vertritt in dieser Fallkonstellation die Auffassung, dass ein Übergehen im Sinne von
Weite Teile der Literatur lehnen diese Auffassung als zu weitgehend abBurandt/Rojahn/Czubayko, 4. Aufl. 2022, BGB
Nach der hier vertretenen Auffassung ist die Auffassung der Rechtsprechung zutreffend, da es für das Übergehen im Sinne von
Entscheidend ist allein, ob der Erblasser den Pflichtteilsberechtigten bzw. später pflichtteilsberechtigt Gewordenen in der letztwilligen Verfügung überhaupt erwähnt hat.So und mit weiteren sehr guten Argumenten Burandt/Rojahn/Czubayko, 4. Aufl. 2022, BGB
4) Zusammenfassung der Rechtsprechung
5) Literaturstimmen
- 14Grüneberg BGB-Kommentar, 81. Auflage 2022
- Schlitt/Müller Handbuch Pflichtteilsrecht, 2. Auflage 2017
- Burandt/Rojahn Erbrecht, 4. Auflage 2022
- Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch 9. Aufl. 2022
- Hau/Poseck, Beck Online-Kommentar BGB, 63. Edition, Stand 01.08.2022
6) Häufige Paragraphenketten
15§ 2079, § 2078, § 2080, § 2081, § 2082, § 2083, § 2084, § 2085, § 2086,
7) Prozessuales
a) 16Beweislast
aa) § 2079 S. 1 BGB
Die Beweislast für das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes unterliegt den allgemeinen Beweislastregeln, sodass diese denjenigen trifft, der sich auf die Wirksamkeit der Anfechtung beruft.BayBbLG FamRZ 1997, 772 (773); 1985, 534 (535); OLG München NJW-RR 2008, 1112 Der Anfechtende muss daher die Pflichtteilsberechtigung und die Nichtberücksichtigung in der letztwilligen Verfügung beweisen.
Die falsche Personenstandsangabe in einem notariellen Testament durch den Erblasser reicht nach dem OLG München zum Nachweis eines Anfechtungsgrundes – Nichtberücksichtigung - nicht aus.OLG München NJW-RR 2008, 1112
Sofern sich der Anfechtungsgegner auf den Ausschluss der Anfechtung aufgrund der analogen Anwendung von
bb) § 2079 S. 2 BGB
Den entgegenstehenden hypothetischen Erblasserwillen im Sinne des
8) Anmerkungen
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Aufgrund der Tatsache, dass die bloße Nichterwähnung des Pflichtteilsberechtigten - etwa bereits im Rahmen der Vorbemerkungen eines notariellen Testaments - ein klares Indiz für das ungewollte Ausschließen des Pflichtteilsberechtigten ist und der Tatsache, dass der Gesetzgeber in
Natürlich sind im Zeitpunkt der Testamentserrichtung spätere Adoptionen, etwa typischerweise Stiefkindadoptionen, nicht abschließend zu antizipieren, aber dennoch sollte man unter den durchaus geringen Voraussetzungen im Sinne von
Um selbst einer Anfechtung im Rahmen der eigenen testamentarischen Verfügung entgegenzuwirken, ist über eine auflösende Bedingung im Falle der Anfechtung durch einen nichtbedachten, übergangen Pflichtteilsberechtigten bzw. eine klare Formulierung der Begünstigung dahingehend anzuraten, dass diese auch gelten soll, wenn später ein Pflichtteilsberechtigter hinzutritt etc., um den Ausnahmetatbestand der Anfechtbarkeit nach
Die Vorschrift stellt ferner einen besonderen Fall dar, in dem insbesondere die Bindungswirkung gemeinschaftlicher Testamente und von Erbverträgen über den Verweis von
Es ist insbesondere bemerkenswert, dass
Es ist daher von erheblicher Relevanz, dass im Rahmen der Besprechung der Bindungswirkung bzw. etwaigen Öffnungsklauseln im Rahmen von gemeinschaftlichen Testamenten und Erbverträgen über einen vorweggenommenen Verzicht des Längerlebenden auf die Geltendmachung der Anfechtung nach