§ 2078 Anfechtung wegen Irrtums oder Drohung
(1) Eine letztwillige Verfügung kann angefochten werden, soweit der Erblasser über den Inhalt seiner Erklärung im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte und anzunehmen ist, dass er die Erklärung bei Kenntnis der Sachlage nicht abgegeben haben würde.
(2) Das Gleiche gilt, soweit der Erblasser zu der Verfügung durch die irrige Annahme oder Erwartung des Eintritts oder Nichteintritts eines Umstands oder widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist.
(3) Die Vorschrift des § 122 findet keine Anwendung.
Für den Rechtsverkehr
(für Nichtjuristen)
zum Expertenteil (für Juristen)
Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle
1Die Anfechtung letztwilliger Verfügungen weist im Vergleich zu den allgemeinen Anfechtungsvorschriften des BGB (siehe §
Anfechtungsberechtigt beim einfachen Testament ist nicht der Erklärende, also der Erblasser, sondern ein Dritter, für den die Aufhebung der letztwilligen Verfügung vorteilhaft wäre. Der Anfechtungsberechtigte löst sich also nicht von einer eigenen Erklärung.
Hinweis: Der Erblasser selbst benötigt kein Anfechtungsrecht, weil er seine letztwillige Verfügung ohnehin jederzeit widerrufen kann (s. hierzu §
§ 2253 ff. BGB).Praktikerhinweis: Etwas anderes gilt für Erbverträge, deren Anfechtung das Gesetz besonders regelt (vgl. §
§ 2281 ff. BGB). Dabei sind die Vorschriften auf in gemeinschaftlichen Testamenten getroffene wechselbezügliche Verfügungen entsprechend anwendbar. Terminologisch ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber eine Verfügung des Erblasser nach Abschluss eines Erbvertrages nicht mehr als letztwillige Verfügung, sondern als spätere Verfügung von Todes wegen bezeichnet; eine solche Verfügung ist ohnehin unwirksam (vgl. zum terminologischen Unterschied§ 2289 Abs. 1 Satz 1 BGB „letztwillige Verfügung“ und§ 2289 Abs. 1 Satz 2 BGB „spätere Verfügung von Todes wegen“).- Irrtümer über den Grund für die Erklärung des letzten Willens (sog. Motivirrtümer) berechtigen sowohl beim Testament als auch über die Verweisung von §
§ 2281 Abs. 1 BGB beim Erbvertrag als auch beim Ehegattentestament mit (wechselbezüglichen Verfügungen) zur Anfechtung.
Die Testamentsanfechtung dient daher in erster Linie dem Schutz der Interessen des Anfechtungsberechtigten vor einer fehlerhaften, für den Anfechtungsberechtigten nachteiligen Erklärung des Erblassers.
Zur Testamentsanfechtung kommt es häufig dann, wenn sich gesetzliche Erben, insbesondere Kinder, vom Erblasser übergangen fühlen, sei es durch einen Ausschluss von der Erbschaft oder eine ihrer Ansicht nach zu geringe Erbquote. Es stellt sich dann die Frage, inwiefern sich das Testament anfechten lässt.
Praktisch bedeutsam sind hier Fälle des Motivirrtums, etwa die Erwartung des Erblassers, dass er zum eingesetzten Erben ein harmonisches Verhältnis bis ans Lebensende hat oder dass dieser ihn bis ins hohe Lebensalter betreut und pflegt. Auch Täuschungen über vermeintliches Fehlverhalten von Kindern mit der Folge, dass diese testamentarisch ausgeschlossen werden, sind nicht selten.
Praktikerhinweis: In der Praxis wenden sich Mandanten häufig an den Rechtsanwalt und schildern, dass der Erblasser von seiner letztwilligen Verfügung im Laufe der Zeit Abstand genommen habe. Er habe die getroffene letztwillige Verfügung so nicht mehr gewollt, daher müsse das Testament anfechtbar sein. Hier wird häufig übersehen, dass der zur Anfechtung berechtigende Irrtum im Zeitpunkt der Errichtung vorliegen muss. Erkennt der Erblasser später seinen Irrtum und nimmt er dennoch keine Änderungen an der letztwilligen Verfügung vor, können auch Dritte das Testament nicht mehr anfechten.
2Anwendbarkeit
Wie bei allen Anfechtungsvorschriften gilt der Vorrang der Auslegung der Erklärung. Das bedeutet, dass zunächst eine erläuternde Auslegung anhand des Wortlauts der letztwilligen Verfügung vorzunehmen ist. Es ist ggf. zu ergründen, was der Erblasser bei Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten meinte (z.B. Umschreibung eines in den Nachlass fallenden Oldtimers mit „mein Schätzchen“). Ergänzend ist bei Lücken eine hypothetische Auslegung der Erklärung vorzunehmen (Was hätte der Erblasser bestimmt, wenn er sich dieser Lücke bewusst gewesen wäre?). Lässt sich im Wege der erläuternden und/oder ergänzenden Auslegung ausschließen, dass sich der Erblasser nicht in einem Irrtum befunden hat, scheidet eine Anfechtung aus.
3Was bedeutet letztwillige Verfügung?
Verfügung von Todes wegen ist der Oberbegriff für Testament (
Letztwillige Verfügung bedeutet dabei sprichwörtlich, dass der Erblasser bis zum letzten Atemzug eine neue letztwillige Verfügung unter Beachtung der Formvorschriften treffen kann. Der Begriff umfasst dabei aber auch die einzelnen Anordnungen (vgl. §
Im Sinne von
4Anfechtungsberechtigte Person
5Anfechtungsgründe
Zur Anfechtung berechtigen folgende Gründe:
- Erklärungsirrtum, also ein Irrtum in der Erklärungshandlung, d.h. bei Abgabe der Erklärung (z.B. Verschreiben einer Zahl oder eines Namens; Verwechslung bei der Übergabe eines Testaments an den Notar, z.B. Übergabe der ersten Abfassung statt der korrigierten Fassung);
- Inhaltsirrtum, ein Irrtum über die Bedeutung der abgegebenen Erklärung (z.B. über die jederzeitige Möglichkeit zum Widerruf einer Erbeinsetzung in einem Erbvertrag; Verwechslung der Vor- und Nacherbschaft mit Schlusserbschaft);
- Motivirrtum, ein Irrtum über den Beweggrund für die Anordnung einer letztwilligen Verfügung (z.B. irrige Annahme, es bestehe ein Verwandtschaftsverhältnis zum Bedachten; Annahme der baldigen Eheschließung; Vorstellung, jemand erfülle Pflegeverpflichtung gegenüber Erblasser; falsche Vorstellung über Wert eines Erbschaftsgegenstandes);
- Drohung (z.B. eines Ehegatten, sich das Leben zu nehmen oder ihn zu verlassen, wenn ein gemeinschaftliches Testament nicht unterschrieben werde);
6Anfechtungsform
Die Anfechtungserklärung kann formlos erfolgen.
Praktikerhinweis: Bei Erbvertrag und gemeinschaftlichten Testament nach Versterben des Ehegatten ist die strenge Form des
7Anfechtungsfrist
Die Frist zur Anfechtung beträgt ein Jahr. Sie beginnt in dem Zeitpunkt, indem der Anfechtungsberechtigte Kenntnis vom Anfechtungsgrund erhalten hat. 30 Jahre nach dem Erbfall ist einer Anfechtung ausgeschlossen (s.
8Anfechtungsgegner
Die Anfechtung wird gegenüber dem Nachlassgericht erklärt. Dieses leitete dann die Erklärung an denjenigen weiter, der von der angefochtenen Verfügung unmittelbar betroffen ist (s.
9Wirkung der Anfechtung
Wenn die Anfechtung vom Anfechtungsberechtigten rechtzeitig gegenüber dem Nachlassgericht ordnungsgemäß erklärt worden ist und der Anfechtungsgrund vorliegt, dann gilt die Verfügung als von Anfang nicht getroffen; sie ist unwirksam. Die erbrechtliche Situation ist dann so zu beurteilen, als hätte es die angefochtene einzelne Verfügung nie gegeben. Hat jemand auf Grund der angefochtenen letztwilligen Verfügung etwas erlangt (z.B. einen Gegenstand), dann ist dieser an den/die Erben als ungerechtfertigte Bereicherung herauszugeben bzw. ggf. Wertersatz zu leisten.
Die Anfechtung erfasst damit grundsätzlich nicht das gesamte Testament oder den gesamten Erbvertrag, sondern nur die einzelne Verfügung, die angefochten wurde und auf die sich der Anfechtungsgrund bezieht. Ob das Testament bzw. der Erbvertrag im Übrigen weiterhin wirksam ist, bestimmt sich nach
Die Anfechtung berechtigt die betroffene Person (z.B. den Begünstigten eines Vermächtnisses nach Anfechtung desselbigen) nicht zum Schadensersatz; der Anfechtende ist nicht zum Schadensersatz verpflichtet.
Expertenhinweise
(für Juristen)
1) Allgemeines
a) Normzweck
10In §
2) Definitionen
14a) Anfechtung einer letztwilligen Verfügung
Letztwillige Verfügung ist jede einzelne Verfügung von Todes wegen, also jede Verfügung innerhalb eines Testaments. Schenkungsversprechen von Todes wegen (
3) Abgrenzungen, Kasuistik
25Als typischer Fall eines Inhaltsirrtums nach
26Auch inhaltliche Irrtümer über erbrechtliche Begrifflichkeiten wie „Vor- und Nacherbe“, „Schlusserbe“, „Ersatzerbe“ sind häufiger anzutreffenRG Recht 1919 Nr. 2135; OLG Frankfurt ZEV 1997, 422..
27Ein Motivirrtum liegt bei Täuschungen über die Vergangenheit oder Betreuungs-/Pflegeleistungen des Begünstigten vor.BayObLG, FamRZ 2003, 708 (Täuschung über kriminelle Vergangenheit und erbrachte Betreuungsleistungen); OLG Oldenburg, Beschl. v. 12.1.2010 – 12 U 67/09; zitiert nach juris.de (Pflege und Betreuung) Bei enttäuschter Pflegeerwartung scheidet ein Motivirrtum allerdings dann aus, wenn der Testierende im Testament selbst Regelungen für verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung getroffen hat.OLG Jena, Beschluss v. 14.01.2015 – 6 W 76/14, jurisPR-FamR 9/2015 Anm. 2 (Erbeinsetzungsrecht für überlebenden Ehegatten bei enttäuschter Pflegeerwartung); BayObLG, Beschluss v. 19.10.2000 – 1Z BR 116/99, FamRZ 2001, 873 Fehlerhafte Annahmen zum Bestehen eines bestimmten Verwandtschaftsverhältnisses zum Bedachten begründen ebenfalls einen Anfechtungsgrund nach
4) Zusammenfassung der Rechtsprechung
28
- BGH, 03.05.1961 – V ZR 154/59
- BGH, 08.05.1985 – IVa ZR 230/83
- BGH, 22.01.1986 – IVa ZR 90/84
- BGH, 27.05.1987 – IVa ZR 30/86
- BGH 22.11.1995 – XII ZR 227/94
- BGH, 26.11.2003 – IV ZR 438/02
- BGH, 20.02.2008 – IV ZR 32/06
- BayObLG, 07.06.1994 – 1Z BR 69/93
- BayObLG, 23.04.1997 - 1Z BR 140/96
- OLG Frankfurt, 06.06.1997 – 20 W 606/94
- BayObLG, 19.10.2000 – 1Z BR 116/99
- BayObLG, 02.05.2002 – 1Z BR 24/01
- BayObLG, 14.08.2002 – 1Z BR 58/02
- OLG Köln, 03.11.2003 – 2 Wx 26/03
- BayObLG 02.08.2004 – 1Z BR 56/04
- OLG Oldenburg, 20.01.2010 – 12 U 67/09
- OLG München, 28.03.2011 – 31 Wx 93/10
- OLG Koblenz, 06.05.2014 – 3 U 1272/13
- OLG Jena, 14.01.2015 – 6 W 76/14
5) Literaturstimmen
- 29Palandt, BGB-Kommentar, 74. Auflage 2015
- Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch: BGB Band 9: Erbrecht, §
§ 1922 – 2385, §§ 27 – 35 BeurkG, 6. Auflage 2013 - Dirk Olzen, Die vorweggenommene Erbfolge, 1984
6) Häufige Paragraphenketten
7) Prozessuales
31Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen des Anfechtungsgrundes trägt derjenige, der sich auf die Wirksamkeit der Anfechtung beruft. Bei einem Motivirrtum gelten erhöhte Anforderungen. Für die Ursächlichkeit/Kausalität gibt es keinen Beweis „des ersten Anscheins“. Die Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Irrtums müssen sich nicht aus der letztwilligen Verfügung ergeben. Der Nachweis des Anfechtungsgrundes kann auch durch Umstände, die außerhalb der Urkunde liegen, geführt werden. Die bei der Auslegung von Testamenten geltende „Andeutungstheorie“ gilt für das Vorliegen eines Anfechtungsgrundes nicht.
8) Anmerkungen
32Die Vorschrift stellt über den Verweis des
Konsequenterweise müsste
Dem weiten Anwendungsbereich des Anfechtungsgrundes nach