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von Göler (Hrsg.) / Jörn Vinnen / § 2315

§ 2315 Anrechnung von Zuwendungen auf den Pflichtteil

(1) Der Pflichtteilsberechtigte hat sich auf den Pflichtteil anrechnen zu lassen, was ihm von dem Erblasser durch Rechtsgeschäft unter Lebenden mit der Bestimmung zugewendet worden ist, dass es auf den Pflichtteil angerechnet werden soll.

(2) Der Wert der Zuwendung wird bei der Bestimmung des Pflichtteils dem Nachlass hinzugerechnet. Der Wert bestimmt sich nach der Zeit, zu welcher die Zuwendung erfolgt ist.

(3) Ist der Pflichtteilsberechtigte ein Abkömmling des Erblassers, so findet die Vorschrift des § 2051 Abs. 1 entsprechende Anwendung.

Für den Rechtsverkehr

(für Nichtjuristen)

zum Expertenteil (für Juristen)

Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle

1Die Vorschrift hat eine sehr große Bedeutung für die Praxis. Sie ist nicht nur nach Eintritt des Erbfalls, sondern bei jeder lebzeitigen Übertragung von Vermögensgegenständen auf Kinder und Enkel zu bedenken.

Anrechnung von Zuwendungen / Schenkungen auf ordentlichen Pflichtteil

2Die Vorschrift regelt, welche zu Lebzeiten des Erblassers von diesem an den Pflichtteilsberechtigten gegebenen Zuwendungen auf den ordentlichen Pflichtteil (also nicht den Pflichtteilsergänzungsanspruch!) angerechnet werden (§ 2315 I und III). Außerdem bestimmt § 2315 II BGB, wie eine ggf. durchzuführende Anrechnung erfolgt.

Kürzung des Pflichtteils bei Zuwendungen nur bei lebzeitiger Vereinbarung

3Danach gilt, dass sich ein Pflichtteilsberechtigter nur ausnahmsweise dann eine Zuwendung anrechnen lassen muss, wenn dieses ausdrücklich vereinbart wurde. Eine lediglich einseitige Anrechnungsbestimmung durch den Erblasser ist unwirksam. Die Vereinbarung kann schon bei der Zuwendung erfolgen, sie kann aber auch später vereinbart werden. Wie lange die wirksam vereinbarte Anrechnungsvereinbarung zurückliegt, ist unerheblich (keine 10-Jahres-Frist). Bei jeder Zuwendung von Bedeutung sollte klargestellt werden, ob diese auf den Pflichtteil Anrechnung finden soll.

Vereinbarung der Anrechnung möglichst schriftlich

4Die Anrechnung kann auch mündlich vereinbart werden – aus Gründen der späteren Beweisbarkeit sollte sie allerdings unbedingt schriftlich festgehalten werden, bei Grundstücksgeschäften bietet sich der Übergabevertrag an.

Anrechnung gilt auch für Nachkommen des Pflichtteilsberechtigten

5Eine solche Vereinbarung gilt auch gegenüber pflichtteilsberechtigten Kindern und Kindeskindern des Pflichtteilsberechtigten. Vereinbart der Erblasser also mit seinem Kind eine Anrechnung einer Zuwendung, so kürzt sich auch der Pflichtteil seiner Enkel, die von diesem Kind abstammen.
Diese Regelung kann nur dann greifen, wenn der dem Erblasser näherstehende Pflichtteilsberechtigte verstirbt oder z.B. durch Ausschlagung seinen Pflichtteilsanspruch verliert.

Wie berechnet man die Anrechnung?

Anrechnen bedeutet:

a) Den reinen Nachlasswert ermitteln

b) Zurechnung des Zuwendungswertes mit dem Wert zum Zeitpunkt der Zuwendung (Berücksichtigung der Teuerungsrate seit Schenkung)

c) Nach der Zurechnung erhält man den sog. „fiktiven Nachlass“

d) Neuberechnung der Höhe des Pflichtteils aufgrund des fiktiven Nachlasses

e) Abzug des unter b) hinzugerechneten Wertes der Zuwendung

f) Es verbleibt der noch geschuldete, ordentliche Pflichtteil

g) Wenn nichts Abweichendes vereinbart wurde, kann der Pflichtteil auf Null sinken, eine Rückzahlung sieht diese Regelung nicht vor (anders beim Pflichtteilsergänzungsanspruch)

Expertenhinweise

(für Juristen)

1) Allgemeines

6Die Norm soll eine ungewollte Doppelbegünstigung eines Pflichtteilsberechtigten verhindern. Sie stellt eine Ausnahme zum gesetzlichen Grundsatz dar, wonach lebzeitige Vorempfänge grundsätzlich keine Auswirkung für den ordentlichen Pflichtteilsanspruch des Pflichtteilsberechtigten haben. Für Pflichtteilsergänzungsansprüche ist § 2327 BGB zu beachten, der diesen Grundsatz umkehrt. Im Gegensatz zu Ausgleichungen (§§ 2050 ff. i.V.m. § 2316 BGB) betrifft die Anrechnung von Zuwendungen nach § 2315 BGB nur den jeweiligen Pflichtteilsberechtigten, grundsätzlich aber nicht andere Pflichtteilsberechtigte.

2) Definitionen

a) Zuwendung durch lebzeitiges Rechtsgeschäft

7aa) Zuwendung ist als die freiwillige und freigiebige VerschaffungOLG Düsseldorf, ZEV 1994, S. 173 eines Vorteils zu verstehen. Das Vermögen des Erblassers und sein potentieller Nachlass müssen durch die Leistung verringert worden sein.Lange in Münchener Kommentar, 6.A., § 2315, Rn. 6, m.w.N. Freigiebigkeit heißt, dass keine rechtliche Verpflichtung zur Leistung zum Leistungszeitpunkt bestand,Lange in Münchener Kommentar, 6.A., § 2315, Rn. 6 was über die Schenkung hinausreicht: auch Ausstattungen (§ 1624 BGB), die Gewährung eines zinslosen Darlehens oder ein Schenkungsversprechen unterfallen dem Zuwendungsbegriff des § 2315 BGB.OLG Düsseldorf, ZEV 1994, S. 173    

bb) Die Zuwendung hat zu Lebzeiten zu erfolgen. Bei Schenkungen unter Lebenden auf den Todesfall ist § 2301 BGB zu beachten.Musielak in Münchener Kommentar, 6.A., § 2301, Rn. 31ff Es ist unerheblich, ob die Zuwendung bei Eintritt des Erbfalls noch vorhanden ist.

b) Personen

8aa) Die Anrechnung erfolgt nur im Hinblick auf den Pflichtteil am Nachlass des Zuwendenden. Das gilt auch bei Zuwendungen durch Ehegatten: Verlangt ein enterbter Pflichtteilsberechtigter nach dem letztverstorbenen Ehegatten seinen Pflichtteil, so kann ihm eine Zuwendung des erstverstorbenen Ehegatten nicht entgegengehalten werden.so die h.M. BGHZ 88, S. 102, 109; Herrler/Schmied-Kovarek in Dauner-Lieb u.a. Pflichtteilsrecht Handkommentar, 1.A., § 2315 Rn. 7 m.w.N. 

bb) Zuwendungsempfänger können sämtliche pflichtteilsberechtigten Personen sein. Zuwendungen an dritte Personen sind grundsätzlich nicht geeignet, eine Anrechnungspflicht zu begründen. Das gilt auch für Zuwendungen an EhegattenLange in Münchener Kommentar, 6.A., § 2315, Rn. 8, lediglich in Dreiecksverhältnissen könnte bei einer Zuwendung auf Geheiß des freigiebig Bedachten Pflichtteilsberechtigten zu berücksichtigen sein.Herrler/Schmied-Kovarek in Dauner-Lieb u.a. Pflichtteilsrecht Handkommentar, 1.A., § 2315 Rn. 10 

cc) § 2315 III BGB i.V.m. § 2051 III BGB regelt, dass eine anrechnungspflichtige Zuwendung an einen Pflichtteilsberechtigten auch gegen dessen Abkömmlinge wirkt und somit deren ordentlichen Pflichtteilsanspruch kürzt. Dabei ist es unerheblich, ob der Zuwendungsempfänger durch Tod oder Pflichtteilsverzichtsvertrag wegfällt. Allerdings steht es dem Abkömmling frei, ggf. zu beweisen, dass die Anrechnung nur den Zuwendungsempfänger und gerade nicht ihn treffen sollte.Weidlich in Palandt, 73.A., Rn. 6 Diese Norm ist nicht analog auf Ehegatten, Eltern und Enkel, die an die Stelle von Eltern treten anwendbar.Lange in Münchener Kommentar, 6.A., § 2315 Rn. 26-28 

c) Anrechnungsbestimmung

9Die Anrechnungsbestimmung bedarf im Grundsatz keiner besonderen Form, sie wird als eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung eingeordnet. Die Erklärung sollte sehr sorgfältig formuliert werden, die Annahme einer konkludenten Erklärung kommt nur ausnahmsweise in Betracht.Weidlich in Palandt, 73.A, Rn. 3 Die Beweispflicht liegt bei dem Erben, wobei auch höhere Zuwendungen keine beweiserleichternde Vermutung der Anrechnung in sich tragen.OLG Schleswig, ZEV 2008, S. 386; OLG Köln, NJW-RR 2008, S. 240 Auf Seiten des Zuwendungsempfängers setzt die wirksame Anrechnungsbestimmung ein Bewusstsein für die Tragweite der Erklärung voraus. Er muss abwägen können, ob er die Zuwendung mit einem (teilweisen) Verzicht auf einen späteren Pflichtteil „bezahlen“ möchte.wie vor Letzteres wirft bei Minderjährigen besondere Probleme auf.Herrler/Schmied-Kovarek in Dauner-Lieb u.a. Pflichtteilsrecht Handkommentar, 1.A., § 2315 Rn. 24 ff 

d) Berechnungsweise

10Bei der Berechnung des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs unter Berücksichtigung einer gem. § 2315 BGB anrechnungspflichtigen Zuwendung ist dreistufig vorzugehen: Der Wert des Nachlasses zum Zeitpunkt des Eintritts des Erbfalles ist zu erhöhen um den Wert der Zuwendung im Zeitpunkt der Zuwendung (= fiktiver Nachlasswert); der Pflichtteil ist entsprechend der jeweiligen Pflichtteilsquote zu ermitteln; von dem so errechneten Pflichtteil ist die anrechnungspflichtige Zuwendung abzuziehen.Herrler/Schmied-Kovarek in Dauner-Lieb u.a. Pflichtteilsrecht Handkommentar, 1.A.,§ 2315 Rn. 24 ff
   
Formelhaft:

11Pflichtteilsanspruch = (Reinnachlass + Zuwendungswert) x (gesetzliche Erbquote / 2) ./. Zuwendungswert. Die Bewertung der Zuwendung hat auf den Tag der Leistung der Zuwendung zu erfolgen, dieser Wert ist dann zu indexieren, d.h. der Kaufkraftveränderung anzupassen.Lange in Münchener Kommentar, 6.A., § 2315, Rn. 24 
Die Anrechnung führt allenfalls zu einer vollständigen Reduzierung des Pflichtteils auf 0, in keinem Fall zu einem Herausgabe- oder Zahlungsanspruch gegen den Pflichtteilsberechtigten.

3) Abgrenzungen, Kasuistik

a) Abgrenzung

12Die Anrechnung auf den ordentlichen Pflichtteilsanspruch gem. § 2315 BGB ist strikt von der Anrechnung auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch gem. § 2327 BGB abzugrenzen.

Ferner sind die Rechtsinstitute „Anrechnung“, „Ausgleichung“ (§§ 2050 BGB ff.) und „Kürzung“ (z.B. § 2318 BGB) strikt voneinander zu trennen: § 2315 BGB ist ausschließlich eine Vorschrift aus dem Bereich der Anrechnung.

b) Berechnungsbeispiel

13Eine typische Berechnung des ordentlichen Pflichtteils unter Berücksichtigung von anzurechnenden Zuwendungen kann dem folgenden Berechnungsbeispiel entnommen werden:

Vater (V) hat drei Töchter (T1, T2 und T3). T1 erhält 15 Jahre vor dem Tod des V Aktien im damaligen Zeitwert i.H.v. EUR 15.000,00 (indexiert auf den Todestag EUR 20.000,00). T2 erhält kurz vor dem Tod des V ein Auto im Zeitwert von EUR 10.000,00. Beide Zuwendungen erfolgen mit der Bestimmung, dass diese Zuwendungen auf den Pflichtteil anzurechnen sind. T3 erhält keine Zuwendung. Erbin des ledig verstorbenen V wird die familienfremde Lebensgefährtin G. V hinterlässt einen reinen Nachlass von EUR 80.000,00.
Der ordentliche Pflichteil von T1 berechnet sich auf EUR 0,00 ((80.000,00 + 20.000,00) x 1/6 – 20.000,00).
Der ordentliche Pflichtteil von T2 berechnet sich auf EUR 5.000,00 ((80.000,00 + 10.000,00) x 1/6 – 10.000,00)   
Der ordentliche Pflichtteil von T3 berechnet sich auf EUR 13.333,32 (80.000,00 x 1/6).

Möglicherweise kommen Pflichtteilsergänzungsansprüche nach §§ 2325 BGB ff. in Betracht. Diese sind jedoch nicht Gegenstand des § 2315 BGB.

4) Zusammenfassung der Rechtsprechung

5) Literaturstimmen

14Eine Abänderung des § 2315 BGB erschien im Vorfeld der zum 1.1.2010 in Kraft getretenen Erbrechtsreform über einen längeren Zeitraum wahrscheinlich. Gewichtige Literaturstimmen plädierten und plädieren für die Einführung der Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung einer Anrechnung.dazu Lange, Reform des Pflichtteilsrechtsrechts: Änderungsvorschläge zu Anrechnung und Stundung, DNotZ 2007, S. 84; Progl, Der Regierungsentwurf zur Erbrechtsreform vom 30.01.2008, ZErb 2008, S. 78 Verschiedentlich ist auf die Möglichkeit der „Flucht in die Pflichtteilsergänzung“ hingewiesen worden. Eine unterlassene Anrechnungsbestimmung wird dabei dadurch korrigiert, dass Vermögensteile durch einen Vertrag zu Gunsten Dritter auf den Todesfall verschenkt werden, so dass diese Vermögensgüter dann der Pflichtteilsergänzung unterliegen und damit der Anrechnung gem. § 2327 BGB.dazu Tanck, Die Flucht in den Pflichtteilsergänzungsanspruch, ZErb 2000, S.3; Wall, Die „Flucht in die Pflichtteilsergänzung“ durch Vertrag zu Gunsten Dritter auf den Todesfall – eine Strategie zur Anrechnung auf den Pflichtteil?, ZErb 2011, S. 10; Wendt, Grenzen der Pflichtteilsbeeinflussung, ZErb 2012, S. 290 

Allgemeine Ausführungen zur Norm finden sich u.a. in:

  • Palandt, BGB-Kommentar, 73. Auflage, 2014
  • Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Erbrecht, Band 9, 6. Auflage, §§ 1922-2385 BGB, §§ 27-35 BeurkG
  • Dauner-Lieb/Grziwotz/Hohmann-Dennhardt (Hrsg.), Pflichtteilsrecht, Handkommentar, 1.A. 2010;
  • Mayer/Süß/Tanck/Bittler/Wälzholz, Handbuch zum Pflichtteilsrecht, 3. A. 2013

6) Häufige Paragraphenketten

§§ 2303, 2305, 2315 BGB

§ 2315 III i.V.m § 2051 III BGB

§§ 2303, 2315, 2325, 2327 BGB

7) Prozessuales

15§ 2315 BGB wird regelmäßig im Rahmen von Pflichtteilsklagen des Pflichtteilsberechtigten gegen den Erben eingewendet. Zu beachten sind dabei insbesondere die Beweislastregeln, wonach dem Erben der Beweis der Anrechnungsvoraussetzungen vollumfänglich obliegt. Soweit sich der Erbe also auf eine nicht schriftlich niedergelegte Anrechnungsvereinbarung beruft, wird er regelmäßig ein hohes Risiko eingehen.

8) Anmerkungen

16Den Rechtsberater trifft bei der Beratung des Erben die Pflicht, sich über Anrechnungsanordnungen i.S. des § 2315 BGB sehr genau zu informieren. Dabei sollte neben der Prüfung von Verträgen auf entsprechende Klauseln auch die Befragung des Erben erfolgen. Im Rahmen von lebzeitigen Übertragungen ist vorsorgend durch entsprechende vertragliche Regelungen künftiger Streit zu vermeiden. Dies sollte sowohl durch die positive Anordnung als auch durch negative Ausschlüsse der Anrechnung von Zuwendungen auf Pflichtteilsansprüche erfolgen. Die Frage, ob eine lebzeitige Zuwendung erbrechtliche Folgen haben soll, stellt sich mithin bei jeder lebzeitigen Zuwendung.


Fußnoten