Schliessen
von Göler (Hrsg.) / Claudia Nowack, Hans-Dieter Wurster / § 619

§ 619 Unabdingbarkeit der Fürsorgepflichten

Die dem Dienstberechtigten nach den §§ 617, 618 obliegenden Verpflichtungen können nicht im Voraus durch Vertrag aufgehoben oder beschränkt werden.

Für den Rechtsverkehr

(für Nichtjuristen)

zum Expertenteil (für Juristen)

Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle

1§ 619 BGB regelt, dass die Fürsorgepflichten, welche dem Arbeitgeber nach den §§ 617, 618 BGB auferlegt werden, zwingend sind und nicht im Voraus durch Vertrag ausgeschlossen werden können. Dies betrifft insbesondere die Pflicht zu entsprechenden Schutzmaßnahmen für Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer.

In der Praxis kommt diese Regelung insbesondere zur Anwendung, wenn Arbeitgeber Kosten für Schutzausrüstung auf Arbeitnehmer ganz oder teilweise abwälzen wollen, zu deren Beschaffung der Arbeitgeber per Gesetz verpflichtet ist. Entsprechende Regelungen in Arbeitsverträgen sind schlichtweg nichtig. Arbeitnehmer sollten sich hier zur Wehr setzen.

Ist dem Arbeitnehmer aufgrund der Verletzung von Fürsorgepflichten des Arbeitgebers ein Schaden entstanden, so kann der Arbeitnehmer auf diesen nachträglich wirksam verzichten.

Die Regelung gilt aber nicht nur für Arbeitsverträge, sondern für alle Dienstverhältnisse und eingeschränkt auch für Werkverträge.

Expertenhinweise

(für Juristen)

1) Allgemeines

a) Anwendungsbereich

aa) Vertragsverhältnisse
(1) Dienstverträge

2Die Vorschrift gilt für alle Arbeits- und Dienstverträge sowie Verträge, die auf dienstähnliche Leistungen gerichtet sind, wie z.B. Auftrag.

(2) Werkverträge

3Darüber hinaus findet eine analoge Anwendung auf Werkverträge statt.OLG Saarbrücken, Urteil vom 18.03.2010, 8 U 3/09 = MDR 2010, 919 Die Anwendbarkeit auf Werkverträge wird durch den Zweck der Vorschrift gerechtfertigt, der darin liegt, die in abhängiger Arbeit Beschäftigten im größtmöglichen Umfang vor den Gefahren zu schützen, die ihre Verrichtungen für ihr Leben und ihre Gesundheit mit sich zu bringen pflegen.OLG Saarbrücken, o. Fn. 1 

Der Besteller hat im Rahmen eines Werkvertrages alles Zumutbare zu tun, um den Unternehmer bei der Ausführung seiner vertraglichen Pflichten vor Schäden zu bewahren. Die Fürsorgepflicht des § 618 BGB, welche den Empfänger der Arbeitsleistung trifft, der die Arbeitsräume oder das Arbeitsgerät zur Verfügung stellt, erstreckt sich dabei auch auf die Angehörigen und Arbeiter des Vertragspartners, solange es sich dabei um einen abgrenzbaren, bestimmbaren Personenkreis handelt.BGH, Urteil vom 20.02.1958 - VII ZR 76/57 

Der Besteller kann diese Fürsorgepflichten nur gegenüber einem selbständigen Werkunternehmer abbedingen oder einem Dritten auferlegen. Dies jedoch nicht, wenn der Schutz eines Arbeitnehmers betroffen ist, der für den Werkunternehmen tätig ist.OLG Düsseldorf, Urteil v. 14.02.2017, 21 U 229/14, juris RdNr. 51 

bb) Nur Fürsorgepflichten aus §§ 617, 618 BGB

4§ 619 BGB ist nur anwendbar für Fürsorgepflichten aus §§ 617, 618 BGB.

Eine Anwendung auf sonstige Pflichten des Dienstberechtigten auf Grund seiner allgemeinen aus den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB abzuleitenden Interessenswahrungspflichten ist nicht gegeben.Staudinger/Oetker, BGB, 2019, § 619 Rn. 12. 

Wegen der unterschiedlichen Qualität der geschützten Rechtsgüter ist eine analoge Anwendung auf die allgemeine Interessenswahrungspflicht ausgeschlossen.BAG, Urteil vom 05.03.1959, 2 AZR 268/56, <br>Link zu: https://www.juris.de/perma?d=KARE037682103 

So können insbesondere die Schutzpflichten des Dienstberechtigten hinsichtlich des Eigentums des Dienstberechtigten abbedungen werden.Staudinger/Oetker, BGB, 2019, § 619 Rn. 12 

b) Grundsatz der Unabdingbarkeit

5Die in den §§ 617, 618 BGB geregelte Fürsorgepflicht des Dienstverpflichteten kann weder einzelvertraglich noch durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung abbedungen werden.Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Preis, 21. Auflg. (2021), <br>§ 616 RdNr. 1 

§ 619 BGB untersagt jegliche Einschränkung der Pflichten des Dienstberechtigten, die ihm §§ 617, 618 BGB und die entsprechenden Konkretisierungen durch das Arbeitsschutzrecht auferlegen. So liegt eine Einschränkung der Pflichten des Dienstberechtigten vor allem dann vor, wenn ihm gestattet wird, das durch staatliches Arbeitsschutzrecht oder Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaft festgelegte Sicherheitsniveau zu unterschreiten. Gleiches gilt, wenn der Dienstverpflichtete an den Kosten für Arbeitsschutzmaßnahmen beteiligt werden soll.Staudinger/Oetker, BGB, 2019, § 619 Rn. 16 

Eine Vereinbarung, wonach der Dienstverpflichtete Kosten für Schutzgegenstände tragen soll, obwohl der Dienstberechtigte per Gesetz verpflichtet ist, diese zu beschaffen, ist von § 619 BGB untersagt.BAG, Urteil vom 21.08.1985, 7 AZR 199/83<br>Link zu: https://www.juris.de/perma?d=KARE286860803 

Nur wenn der Dienstverpflichtete aus den Schutzgegenständen persönliche Vorteile hat, wie z.B. eine Benutzung auch im privaten Bereich, ist eine Kostenbeteiligung rechtswirksam. Die Höhe der Kostenbeteiligung muss aber im Verhältnis zu den Vorteilen angemessen sein.BAG, Urteil vom 10.03.1976, 5 AZR 34/75<br>Link zu: https://www.juris.de/perma?d=KSRE007700062

c) Zeitpunkt der Vereinbarung

6Das Verbot des § 619 BGB ist beschränkt auf Vereinbarungen, die "im Voraus" getroffen werden. Damit sind alle Vereinbarungen untersagt, die vor oder bei Abschluss des Dienstvertrages getroffen werden, aber auch Vereinbarungen, die während des laufenden Dienstvertrages, aber vor Entstehung etwaiger Ansprüche - abgeschlossen werden.Staudinger/Oetker, BGB, 2019, § 619 Rn. 19 

Nach Eintritt eines Schadens jedoch steht § 619 BGB der Zulässigkeit eines Erlassvertrages gem. § 397 BGB oder eines Vergleiches im Hinblick auf die Schadenersatzforderung nicht entgegen.Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Preis, o. Fn. 1 Ein solcher Vertrag findet jedoch seine Grenze in der Sittenwidrigkeiten gemäß § 138 BGB.Palandt/Weidenkaff, Bürgerliches Gesetzbuch, 80. Auflg. (2021), § 619, RdNr. 1 Dies gilt unabhängig davon, ob die Vereinbarung vor oder nach Beendigung des Dienstverhältnisses abgeschlossen wird.Erman/Riesenhuber, BGB, 16. Aufl. (2020), § 619 Rn. 2 

d) Rechtsfolgen

7Vereinbarungen, die gegen § 619 BGB verstoßen, sind nichtig gem. § 134 BGB.Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht/Preis, o. Fn. 1 Ist die Vereinbarung Teil einer Gesamtabrede, liegt Teilnichtigkeit im Sinne des § 139 BGB vor. Nach einhelliger Auffassung führt jedoch die Teilnichtigkeit nicht zur Nichtigkeit der Gesamtabrede. Dies folgt aus dem Zweck des Verbotsbefehls.Erman/Riesenhuber, BGB, 16. Aufl. (2020), § 619 Rn. 4 

 

 Autor

2) Literaturstimmen

8In der Literatur wird die Anwendung der zwingenden Wirkung des § 619 BGB außerhalb des Dienstvertragsrechtes kritisch gesehen. Eine Ausdehnung sollte nicht zugunsten solcher Personen erfolgen, denen die vom Gesetz unterstellte Schutzbedürftigkeit fehlt. Insbesondere soweit eine Vertragspartei auf die Vertragsbedingungen Einfluss nehmen kann und damit auch die dem Dienstberechtigten obliegenden Pflichten durch eine eigene Risikovorsorge substituieren kann, soll eine analoge Anwendung ausgeschlossen sein.Staudinger/Oetker, BGB, 2019, § 619 Rn. 5 

3) Häufige Paragraphenketten

4) Prozessuales

9Entsprechend der allgemeinen Beweislastregel muss derjenige die Nichtigkeit einer Vereinbarung darlegen und beweisen, der sich auf die Nichtigkeit beruft.Münchener Kommentar zum BGB/Lorenz, 8. Auflage (2018) § 619 Rn. 13 


Fußnoten