Schliessen
von Göler (Hrsg.) / Andreas Gerhardinger / § 612

§ 612 Vergütung

(1) Eine Vergütung gilt als stillschweigend vereinbart, wenn die Dienstleistung den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist.

(2) Ist die Höhe der Vergütung nicht bestimmt, so ist bei dem Bestehen einer Taxe die taxmäßige Vergütung, in Ermangelung einer Taxe die übliche Vergütung als vereinbart anzusehen.

(3) (weggefallen)

Für den Rechtsverkehr

(für Nichtjuristen)

zum Expertenteil (für Juristen)

Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle

1§ 612 Abs. 1 BGB sieht eine Vergütungspflicht für geleistete Dienste auch für den Fall vor, dass keine wirksame Vereinbarung über eine Bezahlung feststellbar ist. Voraussetzung ist allerdings, dass überhaupt ein Dienstvertrag vorliegt und nicht lediglich ein unentgeltlicher Auftrag oder ein reines Gefälligkeitsverhältnis. Fehlt eine wirksame Vereinbarung zur Höhe der Vergütung, so bestimmt § 612 Abs. 2 BGB die geschuldete Vergütung in erster Linie nach ggf. vorhandenen Gebührenordnungen („Taxe“) und im Übrigen nach der Üblichkeit. Anwendung findet die Vorschrift vor allem bei freien Dienstverhältnissen wie z.B. Anwalts-, Arzt- oder Architektenverträgen. Eher problematisch ist die rechtliche Abgrenzung bei Diensten im Familienkreis, etwa im Rahmen von nichtehelichen Lebensgemeinschaften oder bei Leistungen in Erwartung späterer Zuwendungen durch Erbschaft o.ä.

Expertenhinweise

(für Juristen)

1) Allgemeines

2§ 612 Abs. 1 BGB verhindert bei fehlender, unwirksamer oder nichtiger Vergütungsvereinbarung die Nichtigkeit des gesamten Dienstvertrages, indem die Lücke durch eine fiktive Vergütungsregelung geschlossen wird (BAG, Urt. v. 22.04.2009, Gz. 5 AZR 436/08], sittenwidrige Vergütung (sog. „Lohnwucher“) bei weniger als 2/3 des Tariflohns). Anwendbar ist § 612 BGB für alle Arten von Dienst- und Arbeitsverträgen einschließlich der Geschäftsbesorgung (§ 675 BGB). Für Handelsvertreter und Ausbildungsverhältnisse gelten vorrangige Sonderregelungen in §§ 87, 87b HGB bzw. §§ 17 ff. BBiG. Über § 612 Abs. 1 BGB erfolgt zugleich eine Abgrenzung zu unentgeltlichen Vertragsverhältnissen wie Auftrag (§§ 662 ff. BGB) und sonstigem Gefälligkeitsverhältnis. In Höhe des gesetzlichen Mindestlohns ist der Vergütungsanspruch nicht abdingbar, §§ 1 Abs. 1, 3 MiLoG und daher auch nicht durch Abgeltungs- oder Ausschlussklauseln einschränkbar (BAG, Urt. v. 19.09.2018, Gz. 9 AZR 162/18).

2) Definitionen

a) Dienstvertrag

3Grundlegende Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 612 BGB ist das Vorliegen eines Dienstvertrages. Dieser kann ausdrücklich oder stillschweigend geschlossen werden. Hinsichtlich des Zustandekommens und der Tatbestandsmerkmale des Dienstvertrages wird auf die Kommentierung zu § 611 BGB verwiesen. Kann die Vereinbarung einer Dienstleistung nicht festgestellt werden, kommen Ansprüche aus GoA (§§ 677 ff.

3) Abgrenzungen, Kasuistik

a) Fehlende Vergütungsvereinbarung

9§ 612 BGB setzt das Bestehen eines Dienstvertrages voraus. Eine Vergütung darf aber weder ausdrücklich noch konkludent vereinbart sein, da in diesem Fall § 611 Abs. 1 BGB unmittelbar anwendbar ist.BAG, NZA 2011, 1173 [BAG, Urt. v. 20.04.2011, Gz. 5 AZR 171/10], http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&sid=24aae3987124d369e8201416529f8cc5&nr=15335&pos=0&anz=1  Der stillschweigende Abschluss eines Dienstvertrages ist bereits mit der Entgegennahme von Diensten, die aus objektiver Sicht nur gegen Vergütung zu erwarten sind, anzunehmen. Da § 612 BGB dispositiv ist, steht es den Vertragsparteien allerdings frei, die Unentgeltlichkeit der Dienstleistung (ausdrücklich oder konkludent) zu vereinbaren. 

b) Gefälligkeitsverhältnis

10Besteht mangels rechtsgeschäftlicher Vereinbarung keine Pflicht zur Erbringung der Dienstleistung, liegt ein nicht vergütungspflichtiges Gefälligkeitsverhältnis vor. Ein solches ist im Hinblick auf die familienrechtlichen Sonderbestimmungen der §§ 1356 und 1619 BGB insbesondere anzunehmen im Verhältnis von Ehegatten untereinander oder Kindern gegenüber ihren Eltern. Für Dienstleistungen zwischen nahen Verwandten ist nach der Verkehrssitte in der Regel ebenfalls keine Vergütung geschuldet.   

c) Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Beruf des Dienstleistenden

11Dienstleistungen, die mit der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit des Dienstverpflichteten in Zusammenhang stehen, sind dagegen grundsätzlich – auch unter Verwandten – vergütungspflichtig. Typische Beispielsfälle sind die sondergesetzlich geregelten Vergütungen von Rechtsanwälten, Ärzten, Steuerberatern und Architekten. Die Vergütung von Handelsvertretern richtet sich dagegen vorrangig nach den §§ 87 ff. HGB, für Ausbildungsverhältnisse sind die §§ 17 ff. BBiG anzuwenden.

d) Faktisches Arbeitsverhältnis

12Auf das sog. fehlerhafte oder faktische Arbeitsverhältnis ist § 612 BGB entsprechend anwendbar. Ein faktisches Arbeitsverhältnis wird angenommen, wenn sich die Beteiligten zwar über die Beschäftigung des Arbeitnehmers an sich einig sind, jedoch Fehler in der Begründung des Arbeitsverhältnisses vorliegen, z.B. bei nichtigem Arbeitsvertrag aufgrund Schwarzarbeit oder fehlender Genehmigung.BAG, NZA 2004, 313 [BAG, Urt. v. 26.02.2003, Gz. 5 AZR 609/01], http://lexetius.com/2003,1151 Während dessen Dauer ist das faktische Arbeitsverhältnis einem wirksam begründeten gleichzusetzen. Insbesondere hat der faktische Arbeitnehmer Anspruch auf Zahlung der angemessenen und üblichen Vergütung.BAG, NZA 1993, 177 [BAG, Urt. v. 12.02.1992, Gz. 5 AZR 297/90], http://www.ejura-examensexpress.de/online-kurs/entsch_show_neu.php?Alp=1&dok_id=2471 Nach den Grundsätzen des faktischen oder fehlerhaften Arbeitsverhältnisses sind z.B. auch die Vergütungsansprüche des Arbeitnehmers bei einvernehmlicher Weiterbeschäftigung während eines Kündigungsschutzprozesses abzuwickeln.BAG, NZA 1986, 561 [BAG, Urt. v. 15.01.1986, Gz. 5 AZR 237/84], https://www.jurion.de/Urteile/BAG/1986-01-15/5-AZR-237_84 Bei gerichtlich erzwungener Weiterbeschäftigung richtet sich der Vergütungsanspruch dagegen nach Bereicherungsrecht.BAG, NZA 1993, 177 [BAG, Urt. v. 12.02.1992, Gz. 5 AZR 297/90], http://www.ejura-examensexpress.de/online-kurs/entsch_show_neu.php?Alp=1&dok_id=2471   

e) Fehlgeschlagene Vergütungserwartung

13Umstritten ist die Anwendbarkeit der Norm auf die Fälle der sog. fehlgeschlagenen Vergütungserwartung, wenn etwa Dienste ohne oder nur gegen geringfügiges Entgelt erbracht werden in der letztlich aber enttäuschten Erwartung, dass diese durch letztwillige Verfügung des Empfängers oder durch Übergabe des Hofes/Gewerbebetriebes zu Lebzeiten abgegolten werden. Die Rechtsprechung wendet in solchen Fällen § 612 BGB an, sofern der Dienstleistende mit hinreichender Aussicht eine spätere Entlohnung erwarten durfte.BGH, NJW 1965, 1224, [BGH, Urt. v. 23.02.1965, Gz. VI ZR 281/63], https://www.jurion.de/de/document/show/0:650371,0/  Erforderlich ist nicht eine sichere Aussicht, jedoch reichen bloß einseitig gebliebene Erwartungen nicht aus. Indizien für eine schützenswerte Erwartung können etwa sein, wiederholte Äußerungen des Dienstempfängers gegenüber dem Dienstleistenden oder Dritten, wonach zu einem späteren Zeitpunkt oder nach dem Tode ein Ausgleich für die geleisteten Dienste erfolgen werde.

f) Überstunden/Reisekosten

14Erbringt der Arbeitnehmer Mehrleistungen in Form von Überstunden und fehlt hierzu eine Regelung im Arbeitsvertrag, ist eine Vergütung jedenfalls dann zu erwarten, wenn die Mehrleistung angeordnet oder erforderlich war.BAG, Urt. v. 03.11.2004, Gz. 5 AZR 648/03, http://lexetius.com/2004,3143  Im Übrigen besteht nicht für jeden Fall der Mehrarbeit eine Vergütungserwartung, da z.B. in leitenden Positionen Überstunden durch die reguläre Vergütung abgedeckt werden können. Auch für Reisezeiten besteht eine Vergütungserwartung im Allgemeinen nur dann, wenn die Leistung außerhalb des gewöhnlichen Arbeitsorts und der üblichen Arbeitszeit erbracht wird, z.B. bei Auslandseinsätzen.BAG, Beschl. v. 23.07.1996, Gz. 1 ABR 17/96,https://web.archive.org/web/20100912062705/http://www.betriebsraete.de/bag-1996/1%20ABR%2017-96.txt   

4) Zusammenfassung der Rechtsprechung

15Zur Zulässigkeit eines Stundenlohns von weniger als zwei Euro im Einzelfall: Arbeitsgericht Cottbus [Urteile vom 09.04.2014, Gz. 13 Ca 10477/13 und 13 Ca 10478/13; nicht rechtskräftig] http://www.kostenlose-urteile.de/ArbG-Cottbus_13-Ca-1047713-und-13-Ca-1047813_Nicht-sittenwidrig-Anwalt-darf-Mitarbeitern-154-Euro-bzw-165-Euro-Stundenlohn-zahlen.news18030.htm

Zur Wirksamkeit einer arbeitsvertraglichen Regelung zur jährlich vom Arbeitgeber festzusetzenden Weihnachtsgratifikation: BAG, Urteil v. 16.01.2013, Gz. 10 AZR 26/12,  http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&sid= 7162b01be787792755d6ff7d386f540d&nr=16532&pos=2&anz=21

Keine Existenz eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, dass jede Mehrarbeitszeit oder jede dienstliche Anwesenheit über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus (Überstunden) zu vergüten ist: BAG, Urt. v. 21.09.2011, Gz. 5 AZR 629/10,  http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&sid=7162b01be787792755d6ff7d386f540d&nr=15601&pos=13&anz=21

Zur Unwirksamkeit einer pauschalen Überstunden-Abgeltungsklausel: BAG. Urt. v. 17.8.2011, Gz. 5 AZR 406/10, http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag& Art=en&sid=7162b01be787792755d6ff7d386f540d&nr=15502&pos=14&anz=21

Kein Anspruch auf Zahlung einer Pauschale für die Reinigung der Dienstkleidung: BAG, Urt. v. 13.7.2010, 9 AZR 264/09 (mit schulmäßiger Prüfung der in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen), http://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bag&Art=en&sid=7162b01be787792755d6ff7d386f540d&nr=14688&pos=19&anz=21

Anspruch auf Bezahlung der gesetzlichen Gebühren auch bei Vertretung eines Rechtsanwalts durch einen angestellten Assessor: BGH, Beschl. v. 27.04.2004, Gz. VI ZB 64/03,  http://openjur.de/u/215605.html

5) Literaturstimmen

Kritisch zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Norm auf Fälle der fehlgeschlagenen Vergütungserwartung u.a. Staudinger/Richardi, Rdnr. 11 f. zu § 612 BGB.

Nach Auffassung von Teilen der Literatur (z.B. Staudinger/Richardi, Rdnr. 46 zu § 612 BGB) ist der Tariflohn als übliche Vergütung nur dann anzusehen, wenn der Arbeitsvertrag unabhängig von der Tarifbindung des Arbeitgebers auf den Tarifvertrag verweist. Anderenfalls ist im Einzelfall nachzuweisen, dass das Vergütungsniveau branchen- und gebietsbezogen im Bereich des Tariflohns liegt.

6) Häufige Paragraphenketten

16Da Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 612 BGB das Vorliegen eines Dienstvertrages (ggf. mit Geschäftsbesorgungscharakter) ist, wird § 612 BGB zumeist in Verbindung mit § 611 und/oder § 675 BGB genannt.

7) Prozessuales

17Zur Beweislast: Der Dienstverpflichtete hat die rechtsgeschäftliche Vereinbarung einer Diensterbringung und die Üblichkeit des Vergütungsanspruches darzulegen und zu beweisen. Den Beweis einer behaupteten Unentgeltlichkeit hat dagegen der Dienstberechtigte zu erbringen. Gleiches gilt für die Behauptung einer geringeren als der taxmäßigen Vergütung.BGH, NJW-RR 2001, 493 [BGH, Urt. v. 21.09.2000, Gz. IX ZR 437/99], http://openjur.de/u/64677.html In Fällen der fehlgeschlagenen Vergütungserwartung muss der Dienstverpflichtete diejenigen Umstände darlegen und beweisen, die eine schützenswerte Erwartung rechtfertigen. Wird in solchen Fällen eine Vergütung erst nach längerer Zeit infolge eines Streites der Beteiligten verlangt, indiziert dies die ursprünglich gewollte Unentgeltlichkeit.Palandt/Weidenkaff, Rdnr. 4 zu § 612 BGB  

Für die Beweislast bei der Geltendmachung einer Überstundenvergütung gilt nach der Rechtsprechung des BAG: „Der Arbeitnehmer, der die Vergütung oder den Ausgleich von Mehrarbeit fordert, muss im Einzelnen darlegen, an welchen Tagen und zu welchen Zeiten er über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat. Er muss vortragen, von welcher Normalarbeitszeit er ausgeht, dass er tatsächlich gearbeitet und welche Tätigkeit er ausgeführt hat. Je nach der Einlassung des Arbeitgebers besteht eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast. Der Anspruch setzt ferner voraus, dass die Mehrarbeit vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt oder geduldet wurde oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit erforderlich war (...)“.BAG, Urt. v. 03.11.2004, Gz. 5 AZR 648/03, http://lexetius.com/2004,3143 

8) Anmerkungen

Das früher in Abs. 3 geregelte Verbot der geschlechtsbezogenen Benachteiligung bei der Vergütung ist seit der Neuregelung des § 612 BGB im Jahr 2006 in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) integriert.


Fußnoten